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An diesem Samstagnachmittag im Sp\u00e4therbst ist es bereits ziemlich k\u00fchl, mit Sicherheit um den Gefrierpunkt herum. Fr\u00f6stelnd und zusammengekauert hocke ich in meine viel zu d\u00fcnne Jacke geh\u00fcllt auf einer Parkbank, w\u00e4hrend sie, einige Meter von mir entfernt, auf der Schaukel sitzt und so hoch schwingt als versuche sie, den Himmel zu ber\u00fchren. Es hat mich immer gl\u00fccklich gemacht, sie beim Schaukeln zu beobachten, auch wenn ich nun feststelle, dass der Winter n\u00e4her r\u00fcckt. Es wird immer k\u00e4lter werden.<\/p>\n
Sie schaukelt und schaukelt und lacht und sieht zu mir her, ihr fr\u00f6hliches Gesicht ein Trost an diesem windigen Tag. Schlie\u00dflich kann ich mich auch zu einem L\u00e4cheln durchringen, denn ich bin ihr wirklich dankbar, dass sie hier bei mir ist. Wir sind zusammen durch schwierigste Zeiten gegangen und ich sehe es als das gr\u00f6\u00dfte Gl\u00fcck auf Erden an, dass sie immer noch hier bei mir ist.<\/p>\n
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Meine Eltern und meine j\u00fcngere Schwester starben noch bevor ich eingeschult wurde bei einem Autounfall. Als gro\u00dfer Bruder war ich immer damit besch\u00e4ftigt, meine Schwester zu besch\u00fctzen. Ich hielt ihr gemeine Kinder vom Hals, kaufte ihr S\u00fc\u00dfigkeiten und passte abends auf sie auf, wenn unsere Eltern ausgingen. In der Besch\u00fctzerrolle schien ich mich selbst zu verwirklichen, doch mit dem Autounfall wurde mir das alles genommen. Ich wurde fortan von meiner Gro\u00dfmutter erzogen. Sie hielt mich am Leben, so gut sie konnte. Zu mehr war sie nicht mehr f\u00e4hig. Als Mutter war sie schon bei meinem Vater \u00fcberfordert gewesen, weshalb ich wohl nicht viel mehr war als ihr neuestes Problem. Selbst wenn ich ihr leid tat und sie mir helfen wollte, war sie vollkommen hilflos. Sie konnte mir nur jeden Tag etwas zum Essen kochen und stillschweigend mit ansehen, wie ich mich immer weiter selbst verlor.<\/p>\n
Ein Jahr sp\u00e4ter lernte ich sie kennen. Sie hat mich gerettet. Erst nachdem ich sie getroffen hatte, war ich langsam wieder in der Lage, aufzutauen. In der Grundschule gingen wir zwar in dieselbe Klasse, aber richtig kennengelernt habe ich sie an einem regnerischen Tag auf dem Spielplatz. Das Wetter hatte mich auf dem Heimweg \u00fcberrascht und meine Idee war es, mich unter einen gro\u00dfen Pilz zu stellen \u2013 eine Attraktion des Spielplatzes. Wie aus einem gl\u00fccklichen Zufall heraus hatte sie schon vor mir dort Zuflucht gefunden. So standen wir zusammen einige Zeit wortlos unter dem gro\u00dfen Pilz und warteten, bis das Regenwetter vor\u00fcberzog. Doch es regnete noch eine ganze Stunde und wir waren dazu verdammt, uns kennenzulernen. Seitdem trafen wir uns \u00f6fters auf dem Spielplatz und stellten uns unter den gro\u00dfen Pilz \u2013 auch wenn es gar nicht regnete. Nur um uns zu unterhalten.<\/p>\n
Unsere tiefe Freundschaft ver\u00e4nderte mein Leben von Grund auf. Ich unterhielt mich \u00f6fters mit meiner Gro\u00dfmutter und meine Noten verbesserten sich. Allein die Tatsache, dass ich nach der Schule wieder mit ihr zusammen sein konnte, l\u00f6ste in mir eine \u00fcberschw\u00e4ngliche Motivation aus. Von den anderen Kindern wurde ich ab und an ge\u00e4rgert, weil ich nicht zu ihnen geh\u00f6ren wollte \u2013 immerhin hatte ich alles, was ich brauchte. Ich nehme an, dass es in diesem Alter ungew\u00f6hnlich aussah, wenn ein Junge nur mit einem M\u00e4dchen spielte. Das alles interessierte mich allerdings \u00fcberhaupt nicht.<\/p>\n
Schlie\u00dflich gingen wir auf dieselbe weiterf\u00fchrende Schule und kamen sogar wieder in dieselbe Klasse. In der Mittelstufe verloren wir uns ein wenig in den Abenteuern unserer pubertierenden Jugend. Schule war nicht mehr so interessant wie Schwimmbadbesuche, Kino, die ersten Kontakte mit Alkohol und sonstige Jugends\u00fcnden. Mich wundert nur, dass ich zu dieser Zeit kaum einen Gedanken an Sexualit\u00e4t verschwendet habe? M\u00f6glicherweise war ich schon zu sehr an den Zustand gew\u00f6hnt, mit einem M\u00e4dchen zusammen zu sein, als dass ich mich vor ihr scheuen musste.<\/p>\n
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Als wir Ende der Mittelstufe in unterschiedliche Klassen kamen, schien die Welt f\u00fcr uns unterzugehen. Sicher, wir sahen uns immer noch so oft wie fr\u00fcher, aber es gab keinen Moment, an dem ich im Unterricht nicht an sie dachte. Wie ich sp\u00e4ter herausfand, war es ihr genauso ergangen. Vielleicht wurde mir zu diesem Zeitpunkt erst wirklich bewusst, welche Zuneigung ich f\u00fcr sie empfunden hatte? W\u00e4hrend ich mich langsam wieder auf die Schule und meinen Abschluss konzentrierte, kam sie nicht richtig aus ihrer Jugend heraus. Sie lie\u00df die Schule schleifen und redete nicht viel. Sie schaffte es nur mit Biegen und Brechen in die Oberstufe, in der sie im Schwerpunkt die gleichen Kurse wie ich w\u00e4hlte \u2013 nur damit wir wieder zusammen waren.<\/p>\n
Wir konnten die Welt nicht verstehen. Wir waren jung und kannten die Richtung nicht, die in die Zukunft f\u00fchrt. Einen Teil dieser Wahrheit, die die Mysterien des Lebens umgibt, wollten wir zusammen ergr\u00fcnden. Ich war 17 und am Zenit meiner Jugend angelangt. Du warst ein Jahr j\u00fcnger und hast mir blind vertraut. Vielleicht zu blind. Aber in dieser Nacht war ich gl\u00fccklich dar\u00fcber, dass du dich mir anvertraut hattest und keinem anderen. Wir lagen die ganze Nacht nebeneinander. Am n\u00e4chsten Morgen schneite es.<\/p>\n
Mein Abschluss bef\u00e4higte mich zu einem Studium, das ich aufgrund von mangelnder Zukunftsorientierung noch im selben Jahr begann. Ich wurde zwar im Kreiswehrersatzamt zur Musterung bestellt, dann aber aufgrund meines gebrechlichen K\u00f6rperbaus f\u00fcr unf\u00e4hig erkl\u00e4rt (ich litt zu dieser Zeit tats\u00e4chlich schon fast an Magersucht). Sie folgte mir an die Universit\u00e4t und w\u00e4hlte erneut dieselben Schwerpunkte wie ich. Zwar konnte ich ihre fahrl\u00e4ssige Entscheidung kaum guthei\u00dfen, war aber insgeheim doch froh, dass sie sie getroffen hatte, denn unter meinen Kommilitonen hatte ich kaum Kontakte.<\/p>\n
Ich war und blieb ein Einzelg\u00e4nger, wenn man davon absah, dass sie an meiner Seite war. Sie bem\u00fchte sich ebenso wenig um andere Kontakte, weshalb ich es f\u00fcr unangebracht hielt, selbst welche zu finden. Wir gingen zusammen in Bars und schossen uns mit Tequila alle Lichter aus. Danach hatten wir meistens Sex und unterhielten uns bis tief in die Nacht hinein \u00fcber die Zukunft. Unsere Studentenzeit war verludert und im Gro\u00dfen und Ganzen sinnlos. Gleichzeitig war sie die gro\u00dfartigste Zeit meines Lebens. Niemals zuvor hatte ich mich so stark in die Obhut eines anderen Menschen begeben. Ich hatte mein Leben voll und ganz in ihre H\u00e4nde gelegt. Selbst jetzt sp\u00fcre ich diese Zeit so pr\u00e4sent, als umgebe sie mich immer noch und erf\u00fclle mich mit neuem Leben. Ich bin zwar nicht alt, aber trotzdem m\u00fcde und schwach. Du bist das Einzige, was mir geblieben ist.<\/p>\n
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W\u00e4hrend unseres letzten Wintersemesters an der Uni kam uns der Gedanke, dass wir die Zukunft gemeinsam verbringen wollten. Ich wollte immer bei ihr sein. Ich wollte der einzige Mensch sein, dem sie vertrauen konnte. Ich wollte ihr das geben, was ich niemals hatte.<\/p>\n
An diesem Tag schneite es so schlimm, dass der Schnee auf den Stra\u00dfen \u00fcber kn\u00f6chelhoch war, unsere Hosen durchweichte und in unsere Schuhe eindrang. Da die Stadtverwaltung schon in den vorigen Jahren den Winterdienst vollkommen verschlafen hatte, machten wir uns auch diesmal keine Hoffnungen und mussten uns \u2013 wie erwartet \u2013 im hohen Schnee zum Bahnhof durchschlagen.<\/p>\n
Wir neckten uns, unbek\u00fcmmert des rauen Wetters. Ich rannte ein paar Schritte voraus, um sie zu \u00e4rgern. Sie versuchte mitzuhalten, rutschte aber in der Gl\u00e4tte des festgetretenen Schnees aus. Ich lachte \u00fcber sie, als sie ihr Gesicht aus dem Schnee hob und verzweifelt in meine Richtung blickte. Dann rutschte das Fahrzeug, das zu schnell in die Kurve gelenkt hatte, unkontrolliert auf den Gehsteig. Dort wo sie im Schnee gelegen hatte, sah ich nur noch das Auto \u2013 sie war darunter begraben und damit erneut aus meiner Welt verschwunden.<\/p>\n
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Das M\u00e4dchen auf der Schaukel, das ist nicht sie. Auch wenn das M\u00e4dchen nur f\u00fcr mich lacht, so wie sie es immer getan hat. Manche Leute <\/em><\/strong>sagen mir, dass es sie von Anfang an gar nicht gegeben hat, doch ich wei\u00df: Das ist gelogen. Sie war nur f\u00fcr mich da und ich nur f\u00fcr sie. So wie auch heute noch.<\/p>\n Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu und sie schaukelt immer h\u00f6her. Die blutrote Farbe der untergehenden Sonne vermischt sich mit dem Gold des Himmels. Sie schaukelt und schaukelt und lacht und sieht zu mir her\u00fcber und ihr fr\u00f6hliches Gesicht ist f\u00fcr mich ein Trost an diesem windigen Tag. Schlie\u00dflich kann ich mich auch zu einem dankbaren L\u00e4cheln durchringen. Ich sitze hier und verliere mich in Sequenzen unseres Daseins.<\/p>\n <\/p>\n Julian Jungermann, 13. Mai 2012<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":" Download An diesem Samstagnachmittag im Sp\u00e4therbst ist es bereits ziemlich k\u00fchl, mit Sicherheit um den Gefrierpunkt herum. Fr\u00f6stelnd und zusammengekauert hocke ich in meine viel zu d\u00fcnne Jacke geh\u00fcllt auf einer Parkbank, w\u00e4hrend sie, einige Meter von mir entfernt, auf der Schaukel sitzt und so hoch schwingt als versuche sie, den Himmel zu […]<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":0,"parent":419,"menu_order":0,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","template":"","meta":[],"yoast_head":"\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\t\n\t\n\t\n<\/h2>\n
Das M\u00e4dchen auf der Schaukel l\u00e4chelt. Ich l\u00e4chele zu ihr zur\u00fcck.<\/em><\/h2>\n