Sein Blick war geradewegs auf den nackten Steinboden eines neuen Kontinents gerichtet, der mit 80 Kilometer pro Stunde an ihnen vorbeizog. Sektor 5. Die Kanten des spitzen Gesteins glichen Wellen, die an ihnen vor\u00fcber rauschten. Mike verlor sich darin. Im Bruchteil einer Sekunde schossen unz\u00e4hlige Bilder durch seinen Kopf. Ein Gef\u00fchl der Einsamkeit \u00fcberkam ihn, zusammen mit einer endlosen Schw\u00e4rze, die seine Gedanken umgab. Er bekam G\u00e4nsehaut davon. Jahre lang hatte er dieses Gef\u00fchl ertragen m\u00fcssen und irgendwann war er komplett darin versunken. Die Zeit war vergangen, ohne dass er sie realisiert hatte. Er erinnerte sich nicht mehr an das, was er gegessen, oder an die Menschen, die er getroffen hatte, geschweige denn was au\u00dferhalb dieser Gitterst\u00e4be gewesen war. Irgendwann wurde diese ewige Monotonie durch einen einzigen Menschen aufgebrochen. Wer war diese Person, die ihm den Schl\u00fcssel in die Freiheit zugespielt hatte? Er schien vertraut und gleichzeitig war er der ihm fremdeste Mensch \u00fcberhaupt. Dann diese Asiatin, Mariko. Auch wenn sie einen etwas ungeschickten Eindruck machte, war sie ein Profi. Sie kam aus dem Osten. Wollte sie etwa wieder nach Hause? Mike sah sie vorsichtig durch den R\u00fcckspiegel an. Ihr Blick war nach innen gerichtet, auch wenn sie aus dem Fenster sah. Matt sah auf die Stra\u00dfe, musste sich aber nicht besonders konzentrieren, weil die sie schon kilometerlang geradeaus verlief. Der Riese war vielleicht eine tickende Zeitbombe. Er war ein Monster gewesen, aber ob er jetzt noch r\u00fcckf\u00e4llig werden konnte? Obwohl er sich oft kopf\u00fcber in die Gefahr st\u00fcrzte, hatte Mike das Gef\u00fchl, dass er wusste, was er tat. Au\u00dferdem war er vorsichtig, was andere Menschen betraf. Das war kein Fehler, aber Mike konnte ihm auch ansehen, dass es schwer f\u00fcr ihn war, Bindungen einzugehen. Im Moment brauchten sie ihn, um zu \u00fcberleben.<\/p>\n

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Wem konnte sie wirklich trauen? Mariko sah aus dem Fenster und gleichzeitig war sie gedanklich ganz woanders. Sie sp\u00fcrte Mikes Blicke durch den R\u00fcckspiegel. Wer war er wirklich, wo er doch die Sprache der Imperialisten sprach? Hatte er wirklich sein Ged\u00e4chtnis verloren oder band er ihr nur einen B\u00e4ren auf? Woher hatte er dieses erschreckende Talent zum T\u00f6ten? An diesem Tag hatte sich alles ver\u00e4ndert. An diesem Tag, an dem Sektor 1 in Sektor 6 eingefallen war. Sie hatte schon in der Widerstandsfront von Sektor 5 gek\u00e4mpft und sp\u00e4ter hatte sie auch ihre Heimat verteidigt. Aber sie hatte nichts gegen die absolute Zerst\u00f6rung ausrichten k\u00f6nnen. Familie, Freunde, Heimat \u2013 alles wurde ihr genommen. Der Einzige, der ihr in dieser Welt noch wichtig war, wartete auf ihn, dort in Sektor 6. Sie musste wieder zur\u00fcck, um zu k\u00e4mpfen. Allerdings h\u00e4tte sie es alleine nie so weit geschafft. Ohne Mike und Matt w\u00e4re sie wohl schon lange erschossen worden. Ja und ohne diesen Unbekannten h\u00e4tte sie niemals aus der Zelle fliehen k\u00f6nnen. Steckte Mike ihm unter einer Decke? Beide sprachen die Sprache der Imperialisten. Aber Matt schien ihm zu vertrauen und der Riese war ein sehr vorsichtiger Mensch. Schwer einzusch\u00e4tzen und schwer zu kontrollieren. Allerdings war er verl\u00e4sslich. Er hatte viel Erfahrung mit Waffen und ihrer Verwendung. Auch wenn er ein Menschenkenner war, konnte er nicht mit ihnen umgehen. Mariko vertraute seiner psychischen Stabilit\u00e4t nicht. Wenn dieses Kraftpaket wieder ausrasten sollte, h\u00e4tte er wohl keine Probleme, Mike und sie zu t\u00f6ten, wenn sie nicht aufpassten. Mariko wusste nicht, ob und wie lange sie den M\u00e4nnern vertrauen konnte. Fakt war, dass sie die Beiden brauchte, um nach Sektor 6 zu kommen. Sie w\u00fcrden noch viele Landesgrenzen \u00fcberqueren m\u00fcssen. Das konnten sie nur zusammen schaffen.<\/p>\n

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Die Stra\u00dfe schien sich endlos zu erstrecken. Wenigstens war sie gr\u00f6\u00dftenteils eben und mit Sand \u00fcberstreut. F\u00fcr Sektor 5 eine Seltenheit. Das Verkehrsnetz von Sektor 3 war wesentlich zuverl\u00e4ssiger. Die Tankanzeige signalisierte Matt, dass es nicht mehr lange dauern w\u00fcrde. Sie fuhren schon jenseits der Reserve-Anzeige. In diesen stillen Momenten f\u00fchlte er sich eingeengt. Mike sa\u00df neben ihm und sah aus dem Fenster, genauso wie Mariko auf der R\u00fccksitzbank. An was dachten sie gerade? Mikes Blick war gr\u00f6\u00dftenteils finster. Marikos war verunsichert, vielleicht mit einem Hauch Sehnsucht versehen. Es fiel Matt schwer, den Beiden zu vertrauen. Die Asiatin war wohl \u00e4u\u00dferlich sehr abgekl\u00e4rt \u2013 sie wollte zumindest so wirken \u2013, aber im Inneren hatte sie Angst. Das hing wohl mit ihrer Sehnsucht zusammen.<\/p>\n

Klammert sie sich deshalb so an den Imperialisten und mich, obwohl sie uns nicht leiden kann?<\/em><\/p>\n

Mikes finsterer Blick war schwer zu durchschauen. Erinnerte er sich an seine Gefangenschaft oder \u00fcberlegte er, wie es weitergehen sollte? Vielleicht verheimlichte er den Beiden etwas. Gedankenverlust? Das war eine kindische Ausrede. Es war nicht unm\u00f6glich, aber unglaubw\u00fcrdig. Immerhin kommuniziert er mit der Sprache des Feindes. Arbeitete er letztlich f\u00fcr sie? Die Asiatin k\u00f6nnte auch nur versuchen, Mike und ihn zu benutzen, um ihre eigenen Ziele zu verwirklichen. Matt musste vorsichtig sein. Allerdings w\u00fcrde er sich f\u00fcr eine Weile auf Mikes Verstand verlassen m\u00fcssen. Er war klug, hatte einen schon fast unheimlichen Durchblick. In diesem Spiel zogen sie scheinbar alle an einem Faden, aber in Wirklichkeit hatte jeder seinen eigenen F\u00e4den in der Hand. Wohin f\u00fchrte Matts Faden? An welchen Ort w\u00fcrde ihn diese Stra\u00dfe bringen? Er ist mit den Beiden gekommen, um Imperialisten zu t\u00f6ten. Rache an denen, die ihm alles weggenommen haben. Er schloss kurz seine Augen und sah das Bild von zwei Menschen in seinem Kopf. Dann sp\u00fcrte er, wie Mike an seinem Lenkrad riss.<\/p>\n

\u201eHey, alles klar? Soll ich weiter fahren?\u201c, fragte er besorgt.<\/p>\n

\u201eNein, geht schon.\u201c, brummte Matt. \u201eWir bleiben sowieso gleich stehen.\u201c<\/p>\n

Er w\u00fcrde alleine herausfinden m\u00fcssen, wohin ihn sein Faden f\u00fchrte. Vielleicht war er sogar der Einzige der Drei, der es nicht wusste. So eine gef\u00e4hrliche Situation. Und so spannend.<\/p>\n

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(c) Julian Jungermann<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Sein Blick war geradewegs auf den nackten Steinboden eines neuen Kontinents gerichtet, der mit 80 Kilometer pro Stunde an ihnen vorbeizog. Sektor 5. Die Kanten des spitzen Gesteins glichen Wellen, die an ihnen vor\u00fcber rauschten. Mike verlor sich darin. Im Bruchteil einer Sekunde schossen unz\u00e4hlige Bilder durch seinen Kopf. Ein Gef\u00fchl der Einsamkeit \u00fcberkam ihn, […]<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":0,"parent":203,"menu_order":3,"comment_status":"open","ping_status":"open","template":"","meta":[],"yoast_head":"\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\t\n\t\n\t\n