<\/p>\n

Noch am sp\u00e4ten Abend \u2013 zwei Stunden, bevor die Schenke schloss \u2013 betraten zwei Fremde die Kneipe eines Ortes irgendwo in den L\u00e4ndereien, fernab der gro\u00dfen St\u00e4dte. Der eine war gro\u00df, schlaksig und kahl rasiert; es schien allein die Schuld seiner sich im Kerzenschein spiegelnden Glatze zu sein, dass die beiden von allen Leuten angestarrt wurden. Der andere hingegen war klein, st\u00e4mmig und b\u00e4rtig. Der Bart \u00fcberwucherte sein halbes Gesicht und selbst aus dem Kragen des verlumpten Oberteils wuchsen einige Brusthaare heraus. Ihre dreckige Kleidung lie\u00df den Anschein erwecken, es handele sich bei den Fremden um Landstreicher, w\u00e4ren die zwei nicht mit Schwertern bewaffnet gewesen. Auch ihre festen Gesichtsz\u00fcge lie\u00dfen eher die Vermutung zu, es handele sich um S\u00f6ldner. Nun war eine solche freiberufliche Erwerbst\u00e4tigkeit nicht unbedingt die angesehenste, gab es zum einen zwar Herrschaften, die durchaus ehrenvolle Auftr\u00e4ge annahmen und sogar f\u00fcr die F\u00fcrsten und K\u00f6nige arbeiteten, zum anderen aber auch solche, die sich an zwielichtige Gruppierungen verkauften und in der Regel eher \u00c4rger bedeuteten. Auch deshalb musterte man die beiden sogleich von oben bis unten und der L\u00e4rm der zuvor noch so angeregten Unterhaltungen sank in seinem Pegel drastisch ab. Die Z\u00fcge des B\u00e4rtigen entspannten sich und ein freundliches L\u00e4cheln zierte sein \u00fcberwuchertes Gesicht.<\/p>\n

\u201eGuten Abend, die Herrschaften!\u201c, gr\u00fc\u00dfte er und nickte in die Runde.<\/p>\n

\u201eGuten Abend!\u201c, stammelte auch sein l\u00e4nglicher Freund etwas verlegen. Er \u00fcberlie\u00df wohl grunds\u00e4tzlich lieber dem Kleinen das Reden, der \u00fcber das gr\u00f6\u00dfere Selbstbewusstsein zu verf\u00fcgen schien.<\/p>\n

\u201eWir sind Abenteurer und ziemlich weit gewandert. Hier in der Umgebung gibt es ja kaum D\u00f6rfer, was? Habt ihr noch ein Zimmer f\u00fcr uns frei?\u201c<\/p>\n

Einige lachten und der Gro\u00dfteil wandte sich wieder seinen Unterhaltungen zu. Etwas verdutzt zuckte der St\u00e4mmige mit den Schultern und blickte zum Wirt hin\u00fcber.<\/p>\n

\u201eDas hei\u00dft wohl nein?\u201c<\/p>\n

\u201eDoch, verzeiht.\u201c, lachte der rundliche Mann hinter der Theke und winkte die beiden zu sich, einen Platz vor dem Tresen zu besetzen. Er hatte eine Halbglatze und einen Schn\u00e4uzer. Seine wei\u00dfe Sch\u00fcrze war nach all der verrichteten Arbeit jenes Abends inzwischen grau. Als die beiden sich auf die Barhocker setzten, konnten sie eine Reihe frisch gesp\u00fclter Gl\u00e4ser auf der anderen Seite erkennen. Selbst jetzt putzte er mit einem Handtuch einen nassen Bierkrug trocken.<\/p>\n

\u201eIm Gegenteil: Fast alle Zimmer sind unbesetzt. Es kommen nicht viele Reisende in diese Gegend. Nein, das Am\u00fcsement der meisten war anders zu verstehen: Ihr sagtet, dass ihr Abenteurer seid?\u201c<\/p>\n

\u201eDas ist korrekt.\u201c, best\u00e4tigte der Kleine. Im n\u00e4chsten Moment knallte der Wirt den beiden je einen Krug vor die Nasen, als h\u00e4tte er ihre Gedanken gelesen.<\/p>\n

\u201eEs ist nur so.\u201c, seufzte der Wirt und machte sich daran, den n\u00e4chsten Krug zu sp\u00fclen. \u201eEs gibt den Beruf des Abenteurers seit etwa hundert Jahren nicht mehr. Die meisten, die sich heute Abenteurer nennen, sind Landstreicher, die lediglich behaupten, sie w\u00fcrden arbeiten, oder S\u00f6ldner, die naiv genug sind zu glauben, sie w\u00fcrden der Gesellschaft einen Dienst tun.\u201c<\/p>\n

Der B\u00e4rtige lie\u00df die Behauptung des Wirtes unkommentiert und nahm stattdessen einen gro\u00dfen Schluck von seinem Bier. Der Schlaksige machte einen Moment lang den Eindruck, als wollte er etwas gegen die Anschuldigung sagen, z\u00fcgelte sich aber dann doch und nahm zur Kompensation einen schnellen Schluck.<\/p>\n

\u201eIch kenne nur einen, der sich au\u00dfer euch Abenteurer nennt, aber der ist ein Trinker und Schw\u00e4tzer. Au\u00dferdem war diese Berufung auch vor gut 40 Jahren schon lange ausgestorben, als sich L\u00e9on bei uns im Dorf niedergelassen hat. Seitdem sitzt er jeden Tag hier in der Kneipe und trinkt sich bis zur Schlie\u00dfung einen beachtlichen Pegel an. Viele bezweifeln, dass er bei Bewusstsein ist, w\u00e4hrend er seine bl\u00f6dsinnigen Geschichten erz\u00e4hlt. Trotzdem ist er eine Art Kulturgut dieser Gemeinde.\u201c<\/p>\n

\u201eWas Ihr nicht sagt.\u201c, staunte der B\u00e4rtige. \u201eIst dieser L\u00e9on gerade hier?\u201c<\/p>\n

\u201eSicher.\u201c, nickte der Wirt und deutete auf einen kleinen Rundtisch im Mittelpunkt der Kneipe. Man h\u00e4tte denken k\u00f6nnen, dass jemand wie der alte L\u00e9on eher abseits sa\u00df und sich im Stillen betrank, doch der Greis mit den schulterlangen, wei\u00dfen Haaren und dem ebenso wei\u00dfen Vollbart sa\u00df im Zentrum des Treibens, obwohl er gleichzeitig v\u00f6llig abgeschirmt wirkte. \u201eMeistens brabbelt er von seinen scheinbaren Abenteuern, ohne dass ihm jemand Beachtung schenkt. Fr\u00fcher h\u00f6rten die Leute noch regelm\u00e4\u00dfig zu, wohl wissend, dass alles Stuss ist, was aus seinem Mund kommt. Heute aber wird er weitgehend ignoriert. Seine Geschichten werden auch nicht besser. Ihm f\u00e4llt eben nichts Neues mehr ein.\u201c<\/p>\n

Der B\u00e4rtige bemerkte erstaunt, dass sein gro\u00dfer Freund den Alten mit einem gewissen Interesse musterte und legte daraufhin selbst seinen pr\u00fcfenden Blick auf den Greis, der v\u00f6llig in sich gekehrt vor einem fast gelehrten Bierkrug sa\u00df.<\/p>\n

\u201eIrgendwie habe ich das Bed\u00fcrfnis, eine Geschichte zu h\u00f6ren.\u201c, sagte er knapp, sprang auf und ging auf den alten L\u00e9on zu. Sein hagerer Freund nahm beide Biere und folgte ihm wortlos. Als sie sich an L\u00e9ons Tisch setzten, schien er sie kaum zu beachten. Er starrte nur auf den alten, massiven Holztisch, w\u00e4hrend er vollends in seine Gedanken versunken zu sein schien. Nach kurzem Betrachten seines faltigen Gesichts bemerkte der B\u00e4rtige, dass L\u00e9ons Augen gl\u00e4sern waren. Er war mindestens stark angetrunken.<\/p>\n

\u201eIhr hei\u00dft L\u00e9on, nicht wahr?\u201c, fragte ihn der B\u00e4rtige und wartete auf eine Reaktion, die jedoch ausblieb, weshalb er es noch einmal versuchte. \u201eMan sagte mir, Ihr seid ein Abenteurer? Nun, wir zwei sind auch welche.\u201c<\/p>\n

Da hob L\u00e9on seinen Kopf und sah die beiden an, obwohl es den Anschein hatte, dass er durch sie hindurch blickte. Der kleine St\u00e4mmige sch\u00f6pfte langsam Hoffnung. Er winkte dem Wirt und bedeutete ihm, ein Bier herzubringen.<\/p>\n

\u201eWir w\u00fcrden gerne einige deiner Geschichten h\u00f6ren. W\u00e4re das in Ordnung? Die n\u00e4chste Runde geht auf mich.\u201c<\/p>\n

L\u00e9on sah die beiden unver\u00e4ndert leblos an, ehe er die Augen schloss, sodass sie bereits dachten, er sei im Sitzen eingeschlafen. Dann aber bewegten sich die Lippen des Greises und leise, fast fl\u00fcsternde Worte entwichen ihnen.<\/p>\n

\u201eWart ihr auch in den S\u00fcmpfen im Norden?\u201c<\/p>\n

\u201eJa!\u201c, rief der B\u00e4rtige begeistert. \u201eZwei Wochen sind wir durch diese verfluchten Moraste gewatet, weit und breit keine Menschenseele. Wir dachten schon, wir k\u00e4men nie wieder heraus.\u201c<\/p>\n

\u201eHabt ihr nicht Unterschlupf gefunden in einer kleinen, verlassenen H\u00fctte?\u201c<\/p>\n

\u201eDa war keine H\u00fctte, Alter.\u201c, lachte der B\u00e4rtige und winkte ab. \u201eWir sind eine Ewigkeit durch die S\u00fcmpfe gestiefelt, steckten knietief im Mist und ich schw\u00f6re Euch: Fast w\u00e4re ich ertrunken, h\u00e4tte mein Kamerad hier mich nicht herausgezogen!\u201c<\/p>\n

Da \u00f6ffnete L\u00e9on wieder seine Augen, starrte aber unver\u00e4ndert auf den Tisch. \u201eUnd wenn ihr im Norden wart, habt ihr auch das Meer gesehen?\u201c<\/p>\n

\u201eWir waren dort.\u201c<\/p>\n

\u201eKristallklares Wasser.\u201c, fl\u00fcsterte L\u00e9on. \u201eHunderte Fischarten, die sich bereits an der K\u00fcste tummeln. Ich kann immer noch das kalte Nass an meinen wundgelaufenen F\u00fc\u00dfen sp\u00fcren.\u201c<\/p>\n

Der Wirt brachte den Bierkrug und stellte ihn vor den B\u00e4rtigen, der ihn L\u00e9on zuschob.<\/p>\n

\u201eJa, Alter, du hast Recht. Das Wasser war klarer als alles, was ich jemals gesehen habe.\u201c<\/p>\n

\u201eUnd habt ihr auch das Kargland von Izelia gesehen?\u201c<\/p>\n

\u201eDas verschollene Reich?\u201c, fragte er. \u201eNun, wir haben diese nackte Steinw\u00fcste gesehen. Kaum zu glauben, dass vor \u00fcber 50 Jahren ein komplettes K\u00f6nigreich dort gestanden haben soll.\u201c<\/p>\n

\u201eEs ist vor 55 Jahren spurlos verschwunden.\u201c, korrigierte L\u00e9on und nippte an seinem neuen Krug. \u201eHabt ihr das Gebirge s\u00fcdlich von Conto Apolita \u00fcberquert?\u201c<\/p>\n

\u201eUm Himmels willen!\u201c, lachte der B\u00e4rtige. \u201eWir sind drum herum gereist.\u201c<\/p>\n

\u201eWirklich?\u201c, fragte der Alte. \u201eDas muss euch Monate gekostet haben.\u201c<\/p>\n

\u201eNicht direkt. Wir haben uns hin und wieder eine Mitfahrgelegenheit verschafft, indem wir reisende H\u00e4ndler bezahlten, uns in ihrer Kutsche mitzunehmen. Die k\u00f6nnen ja immerhin auch nicht \u00fcber die Berge.\u201c<\/p>\n

\u201eTats\u00e4chlich.\u201c, schmunzelte L\u00e9on und der B\u00e4rtige nahm die erste Regung des Greises mit einem Hauch von Entsetzen wahr, denn sie war mit der Erkenntnis verbunden, dass er weder betrunken noch angetrunken war, sondern v\u00f6llig n\u00fcchtern. In seinem Blick spiegelten sich mit einem Mal die Emotionen von tausenden von Jahren, die den kleinen St\u00e4mmigen \u00fcberw\u00e4ltigten, ohne dass er sich den Grund daf\u00fcr ausmalen konnte. Da realisierte er, dass seine Augen nicht gl\u00e4sern vom Alkohol waren, sondern feucht vor Tr\u00e4nen und dennoch entwich nicht ein einziger Tropfen diesen tiefen, im Kerzenlicht schimmernden Becken.<\/p>\n

\u201eDa haben sich aber welche gefunden.\u201c, hie\u00df es vom Nachbartisch. \u201ePasst nur auf, Reisende, sonst f\u00e4ngt er noch vom Garten der G\u00f6tter an.\u201c<\/p>\n

\u201eVon was?\u201c, fragte der B\u00e4rtige und sah L\u00e9on interessiert an.<\/p>\n

\u201eIhr habt noch nie davon geh\u00f6rt?\u201c<\/p>\n

\u201eJetzt geht\u2019s los.\u201c, seufzte der Mann vom Tisch nebenan und veranlasste seine Kameraden zum Lachen, aber die beiden Reisenden schenkten ihm gar keine Beachtung.<\/p>\n

\u201eMeint Ihr damit tats\u00e4chlich-?\u201c, fragte der B\u00e4rtige, stockte dann und musste seine Gedanken ordnen. \u201eIch meine: Wart Ihr im tats\u00e4chlichen<\/em> Garten der G\u00f6tter?\u201c<\/p>\n

\u201eDas kommt darauf an, was ihr darunter versteht.\u201c, brummte L\u00e9on und nahm einen weiteren Schluck Bier. \u201eAber ich war tats\u00e4chlich an dem Ort, den man fr\u00fcher den Garten der G\u00f6tter nannte.\u201c<\/p>\n

Der Lange starrte L\u00e9on mit Begeisterung an. Er schien jedes Detail h\u00f6ren zu wollen, aber er \u00fcberlie\u00df dem kleinen Kumpanen die \u00dcbermittlung seiner Gedanken.<\/p>\n

\u201eUnd? Habt ihr die G\u00f6tter getroffen?\u201c<\/p>\n

L\u00e9on lachte kurz auf. \u201eWieder muss ich sagen: Das kommt drauf an, was ihr darunter versteht. Aber ja, ich habe tats\u00e4chlich zwei von ihnen kennengelernt.\u201c<\/p>\n

\u201eWas gab es dort alles? Im Garten der G\u00f6tter?\u201c, fragte der B\u00e4rtige aufgeregt, der am liebsten einen Sturzbach von Fragen auf den Greis losgelassen h\u00e4tte.<\/p>\n

\u201eEinen Schatz.\u201c<\/p>\n

\u201eWas f\u00fcr einen Schatz?\u201c<\/p>\n

\u201eEinen sehr gro\u00dfen. Den gr\u00f6\u00dften, den ich jemals zu Gesicht bekommen habe. Und den einzigen, den ich in meinem Leben aufgegeben habe.\u201c<\/p>\n

\u201eAufgegeben?\u201c<\/p>\n

\u201eIch habe ihn zur\u00fcckgelassen. Irgendwo im Garten der G\u00f6tter liegt er noch versteckt. Ich trauere ihm noch heute nach. H\u00e4tte ich doch nur den Mut gehabt, ihn an mich zu rei\u00dfen.\u201c<\/p>\n

\u201eSagt schon, Alter: Um was f\u00fcr einen Schatz handelt es sich?\u201c<\/p>\n

L\u00e9on lehrte den Krug und schlug ihn vor sich auf den Tisch. \u201eDie Geschichte ist lang. Es bedarf wohl mehr als einen Krug, um sie zu erz\u00e4hlen.\u201c<\/p>\n

\u201eNun, das l\u00e4sst sich-\u201c, begann der Kleine, als der Arm seines langen Freundes in die H\u00f6he schoss und dem Kellner ein Zeichen gab. Verdutzt sah der St\u00e4mmige in sein ernstes Gesicht und erfreute sich seiner funkelnden Augen. \u201eDa habt Ihr\u2019s, Alter.\u201c<\/p>\n

\u201eNennt mich L\u00e9on.\u201c, schmunzelte er und sah die beiden nacheinander an. Dann atmete er tief ein und aus, schloss seine Augen und begann, seine Geschichte zu erz\u00e4hlen.<\/p>\n

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(c) Julian Jungermann<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

  Noch am sp\u00e4ten Abend \u2013 zwei Stunden, bevor die Schenke schloss \u2013 betraten zwei Fremde die Kneipe eines Ortes irgendwo in den L\u00e4ndereien, fernab der gro\u00dfen St\u00e4dte. Der eine war gro\u00df, schlaksig und kahl rasiert; es schien allein die Schuld seiner sich im Kerzenschein spiegelnden Glatze zu sein, dass die beiden von allen Leuten […]<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":0,"parent":151,"menu_order":0,"comment_status":"open","ping_status":"open","template":"","meta":[],"yoast_head":"\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\t\n\t\n\t\n